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Abschied nehmen

karolina-grabowska
Datum:
1. Nov. 2025
Von:
George Reilly

Neulich war ich in meiner Heimat Irland, um mich von einer Cousine zu verabschieden. Dort pflegt man heute noch den Brauch, die Verstorbenen für eine Totenwache zu Hause aufzubahren. Die Verwandtschaft versammelte sich im Wohnzimmer um den offenen Sarg. So war die Cousine noch bei uns. Sie wurde nicht ausgegrenzt. Bei Gebet, Essen und Trinken und Gesprächen mit lange nicht gesehenen Cousins und Cousinen war sie dabei und man konnte dem untröstlichen Ehemann und den trauernden Kindern beistehen. Die Totenwache war sehr würdig und passend.

In der lateinischen Liturgie der Totenmesse wurde früher ein Lied gesungen, das sowohl die Angst vor dem Jüngsten Gericht als auch die Hoffnung auf die Barmherzigkeit Gottes zum Ausdruck brachte: „Dies irae, dies illa“ (Der Tag
des Zorns, jener Tag). Trotz der Geborgenheit in der gemeinsamen Trauer bei der Totenwache überwältigte mich ein Gefühl des Zorns, des Unverständnisses. Warum? Warum konnte sie nicht geheilt werden? Auch Jesus in seiner Verzweiflung am Kreuz haderte mit Gott. Er hatte das Gefühl, dass ihn Gott im schrecklichen Moment seines Sterbens verlassen hatte: „Mein Gott, mein Gott, warum
hast Du mich verlassen?“ Und dennoch konnte er im Augenblick des Sterbens seine Hingabe an seinen Vater aussprechen: „Vater, in Deine Hände lege ich meinen Geist.“

Zur Trauer gehört eine Vielfalt von Gefühlen und jeder Mensch trauert sicherlich anders. Trauer im christlichen Sinne kann Klagen, Zorn, Unverständnis vor Gott zulassen. Sie wird aber auch von der Hoffnung getragen, dass Gottes Liebe stärker ist als der Tod.
George Reilly