Psalm zum Ukraine-Krieg
Ich reiße das Tagesblatt von meinem Jahreskalender ab.
Stumm schaue ich auf die Zahlen – schwarz auf weiß.
Früher kein besonderes Datum, mit dem ich etwas zu verbinden hatte.
Jetzt ein Datum, das sich für lange in mein Gedächtnis einprägt.
Das Datum, das mein Leben in das Davor und Danach trennt.
Ich schließe meine Augen und meine Erinnerungen steigen zerrend in mir hoch:
Ich spüre, wie der Schmerz mein Herz füllt und die Tränen vermag ich nicht mehr zurückzuhalten. Der Lava aus Wut, Verzweiflung, Ohnmacht und Panik bricht über mich herein und mein Verstand weigert sich daran zu glauben.
Ich sehe wieder, wie der Nachthimmel blitzartig erleuchtet wird,
sprach- und regungslos starre ich aus dem Fenster.
Hastig greife nach meinen Sachen und renne los – beim Heulen der Sirenen
vorbei an meinem Zuhause, vorbei an meiner Straße,
vorbei an meinem bisherigen Leben.
Plötzlich wird das zur Realität, das ich nie zu denken wagte,
weil alles, was Krieg war, mir fremd war.
Plötzlich finde ich mich in dieser fremden Welt vor, in der ich nie ankommen wollte.
Warum, Gott? Ich höre dich schweigen Gott…
Oder vielleicht zerschmetterst du jetzt fluchend deine Lieblingstasse?
Oder deine steinhartgewordenen Gesetzestafeln?
Ein Jahr voller Schreckensnachrichten, voller Zerstörungsbilder,
ein Jahr voller Tränen, Flucht und Ungewissheit.
Siehst du das auch, Gott? Ich hatte noch das Glück, dem Tod zu entkommen.
Viele aber nicht. Warum, Gott?
Heute wie damals überkommt mich die Angst beim Knall der Raketen oder beim Heulen der Sirenen. Schmerzlich entdecke ich, was ich verloren habe.
Wann ist genug, Gott? Wann hört das auf?
Ich sehne mich nach einem neuen Leben, dem Leben danach…
Das Leben nach dem Krieg mit lachenden Kindern und fröhlichen Eltern,
mit glücklich Verliebten und mit zufriedenen Greisen…
Wann ist es genug?
Wenn Du keine Antwort für mich hast, dann lass mich spüren, Gott,
dass Du meine klagenden Worte hörst und dass Du jede Träne mitweinst,
dass du jeden Schritt mitgehst und dass du das Leid mit mir teilst.
Lass mich spüren, dass kein verlorenes Leben von dir vergessen wird.
dass mein Leben, genauso wie Tausende, ja Millionen, dir wichtig und wertvoll sind.
Du, Gott – der Liebe, der Hoffnung, des Lebens. Amen.